Am Ende fühlt man sich, als hätte man selbst einen Kater: Zu viele Zigaretten und viel zu viel Alkohol werden in Pernilla Augusts Spielfilm „Svinalängorna“ (Der Schweinestall) konsumiert. Das Regie-Debüt der schwedischen Star-Schauspielerin ist ein zutiefst bewegendes Sozialdrama – und war trotz starker Konkurrenz der überragende Film der 52. Nordischen Filmtage, die vom 3. bis zum 7. November in Lübeck stattfanden. Pernilla August erhielt für ihren ersten Langfilm den mit 12.500 Euro dotierten NDR-Spielfilmpreis.
Schon bei der Premiere auf dem Filmfest von Venedig hatten Kritiker die Verfilmung des Bestsellerromans von Susanne Alakoski über die schwierige Kindheit des finnischen Einwanderermädchens Leena im Schweden der siebziger Jahre mit den Sozialdramen Ken Loachs und Mike Leighs auf eine Stufe gestellt. Die Lübecker Jury schloss sich dieser Einschätzung an: „Ein Film, der uns stark bewegt zurücklässt – durch seine thematische Relevanz und durch seine radikale Intensität. Ein Film, der ebenso sozial bedeutungsvoll wie künstlerisch substanziell den Kosmos seiner Geschichte entfaltet.“
Die 52. Nordischen Filmtage, die wieder Zehntausende Cineasten in die Hansestadt Lübeck zogen, machten einmal mehr deutlich, wie facettenreich das nordeuropäische Filmspektrum ist. Insgesamt wurden 140 Produktionen aus Skandinavien, Norddeutschland und dem Baltikum gezeigt. Besonders stark vertreten waren in diesem Jahr die Schweden, die allein mit 30 Produktionen anreisten. Sie stellten zudem den Hauptteil der in der Retrospektive gezeigten Filme, die sich dem skandinavischen erotischen Film der 50er bis 70er Jahre widmete. Mit ihrer Liberalität und Freizügigkeit trugen diese Filme auf eine besondere Art zur Aufklärung und sexuellen Befreiung bei. Stark vertreten waren zudem die Norweger. Sie zeigten eine Reihe von Kinderfilmen und Dokumentationen und allein vier Spielfilme, darunter den „Berlinale“-Publikumsrenner „En ganske snill mann“ (Ein Mann von Welt).
Das große Thema des diesjährigen Filmfests war allerdings die Bewältigung schwieriger Vergangenheit. Nicht nur in einem Großteil der 17 Spielfilme, darunter elf Premieren, sondern auch und vor allem in den Dokumentationen. In Finnland etwa wird aktuell in mehreren Produktionen der zweimalige Frontenwechsel während des Zweiten Weltkrieges behandelt, was sowohl im Spielfilm „Kuulustela“ (Das Verhör) als auch in den Dokumentationen „Göhrings Marschallstab“ und „Auf Wiedersehen Finnland“ sichtbar wurde.
In Pernilla Augusts „Svinalängorna“ steht zwar das Kindheitstrauma von Leena im Mittelpunkt. Doch wird auch das Schweden der 70er Jahre, insbesondere die Arroganz der einheimischen Bevölkerung gegenüber den finnischen Einwanderern, thematisiert. Etwa, wenn die junge Leena zusammen mit der Mutter das Haus wohlhabender Schweden putzt. Als Erwachsene gehört Leena schließlich selbst zur etablierten schwedischen Mittelschicht. Doch zerspringt die heile Familienwelt der 34-Jährigen jäh, als ein Anruf des Ystader Krankenhauses sie erreicht. Die lange aus dem Bewusstsein verdrängte Mutter liegt im Sterben. Auf der 600 Kilometer langen Reise von Stockholm nach Skåne – von Leena nur widerwillig angetreten – erwachen die Dämonen der Kindheit. Voller Zuversicht starteten Leena und ihre Familie Anfang der 70er Jahre in der neuen Heimat Ystad. Doch die vermeintliche Idylle im von den einheimischen Schweden „Schweinestall“ genannten Vorort entpuppt sich bald als enge, von Missbrauch, Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägte Hölle. In einer immer unerträglicher werdenden Abwärtsspirale bleiben physisch und psychisch verwahrloste Erwachsene und zerbrochene Kinderseelen zurück. Pernilla August, die als hinkende Dienstmagd in Ingmar Bergmans „Fanny und Alexander“ und mit einer Hauptrolle in Bille Augusts „Mit den besten Absichten“ bekannt wurde, gelingt es, die Überwindung des scheinbar aussichtslos prägenden Milieus ohne jede Form von Kitsch oder Sozialromantik darzustellen. Schwedens neuer Schauspiel-Star Noomi Rapace verkörpert glaubhaft die mühsam um ihre Fassung ringende Leena, die es kaum zwei Minuten am Bett der sterbenden Mutter aushält und sie doch auf die Terrasse schiebt, um ihr das Rauchen der geliebten Zigaretten zu ermöglichen.
In Hannes Holms Film „Himlen är oskyldigt blå“ (Der Himmel ist unschuldig blau) ersteht das Schweden der 70er Jahre auf eine andere Art. Er erzählt in erster Linie eine romantische Tragikomödie über den Verlust der Unschuld und die erste Liebe. Die erlebt der Protagonist Martin – brillant gespielt von Bill Skarsgård, einem der sechs Söhne von Schauspiel-Star Stellan Skarsgård – jedoch vor dem Hintergrund einer der größten Drogenskandale der schwedischen Kriminalgeschichte. Martin kommt aus einfachen Verhältnissen, sein bester Freund Micke hingegen gehört zur schwedischen High Society. Was im Alltag noch in den Hintergrund tritt, wird offensichtlich in den Sommerferien. Zwar besorgt Micke Martin einen Ferienjob im exklusiven Restaurant des Königlich Schwedischen Yachtclubs (übrigens der älteste außerhalb Großbritanniens) auf der Schäreninsel Sandhamn. Doch bei Martins Ankunft werden die Grenzen klar gezogen: Micke wohnt selbstverständlich bei seinen Kumpels im Club, seine Eltern im eigenen Sommerhaus – und Martin beim Personal. Wie der 18-Jährige zum Liebling des halbseidenen Restaurantbesitzers aufsteigt, wie er mit der Naivität eines Kindes ins Drogenmilieu gerät und gleichzeitig die erste Liebe erlebt, zeigt Holm mit wunderbaren Bildern und unterstützt durch einen großartigen Soundtrack.
Ihr einjähriger Aufenthalt während der Kindheit in Trinidad hat die Norwegerin Maria Sødahl veranlasst, ihr Drama „Limbo“ vor der exotischen Kulisse des Karibikstaates anzusiedeln. Der Film führt zurück in die 70er Jahre, als die Welt noch deutlich größer war. Sødahl thematisiert die Ehekrise des norwegischen Paares Sonia (Line Verndahl) und Jo (Henrik Rafaelsen) und erzählt gleichzeitig über Heimatlosigkeit und das Gefühl der Frauen, kein eigenes Leben neben dem ihrer erfolgreichen Männer zu haben. Oberflächlich betrachtet führen die Frauen der um die Welt ziehenden Ingenieure ein Leben in Luxus. Tatsächlich vergehen die Tage in Lethargie und Langeweile. Die Stärke von Maria Sødahls Film ist seine ausgesprochen gelungene Dramaturgie. Aus einem träge dahinplätschernden Langzeiturlaub wird für Sonia eine Zeit, in der sie völlig den Boden unter den Füßen verliert. Stark auch die Nebendarstellerin Lena Endre als „Jetset-Queen“ Charlotte. Auf dem Filmfest in Montreal bekam Sødahl für „Limbo“ den Preis für die Beste Regie.
An die eigene Vergangenheit knüpft auch Islands bekanntester Regisseur Fridrik Thór Fridriksson an: Mit „Mama Gógó“ hat er eine Art Fortsetzung seines Oscar-nominierten Films „Children of Nature“ geschaffen, der zudem stark autobiografische Züge trägt. Erneut stellt Fridriksson ebenso schonungslos wie selbstkritisch die Frage, wie die mitten im Leben stehende, stets zu viel beschäftigte Generation mit ihren alternden Eltern umgeht. „Mama Gógó“ setzt bei der Premiere des Films „Children of Nature“ ein und beschreibt die fortschreitende Demenz der Mutter des Regisseurs. Was die alte Dame anfangs noch mit Cleverness ausbügelt – wie sie trotz hoher Promillewerte aus einer Verkehrskontrolle herauskommt, ist unglaublich witzig – wird zunehmend lebensbedrohlich. Wie hilflos gerade Kinder der Erkrankung ihrer Eltern gegenüber stehen, wird in einer kleinen, doch beinahe der wichtigsten Szene des Film deutlich: „Wo bist Du, meine geliebte Mama?“, fragt der Sohn seine ihm gegenüber sitzende Mutter, die jeden Bezug zur Welt verloren hat. Die Sensibilität der Bildsprache war der Jury eine „lobende Erwähnung“ wert.
Das Schicksal der einst berühmten Glücksstädter Druckerei Augustin und des Künstlers Jimmy Ernst verknüpfen die Hamburger Filmemacher Christian Bau und Arthur Dieckhoff in ihrer Dokumentation „Zwiebelfische – Jimmy Ernst, Glückstadt/New York“. Der Sohn des Künstlers Max Ernst und der Journalistin Louise Straus hat Mitte der 30er Jahre im schleswig-holsteinischen Glückstadt eine Ausbildung zum Schriftsetzer gemacht. Untermalt von der beinahe sphärisch zu nennenden Filmmusik der Klangkünstlerin Ulrike Haage und ergänzt um die künstlerischen Fotos, die Candida Höfer von der noch immer vollständig erhaltenen Druckerei gemacht hat, ist ein wahrlich poetisch zu nennender Film entstanden. Es mag sein, dass die dänische Produktion „Armadillo“, die den Orientierungsverlust junger dänischer Soldaten im Afghanistan-Einsatz zeigt, die wichtigste Dokumentation des Festivals war. „Zwiebelfische“ war zweifelsfrei eine der schönsten.